Kindliche Dyspraxie: Ein unterschätztes Problem in Deutschland mit gravierenden Folgen
- Eva Tam -Systemische Kinderpsychotherapie
- 20. März
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 4 Tagen

Kindliche Dyspraxie, auch als Entwicklungsdyspraxie oder umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) bekannt, ist eine neurologische Störung, die die motorische Koordination von Kindern erheblich beeinträchtigt. Während sie in vielen Ländern zunehmend Beachtung findet, wird sie in Deutschland oft unterschätzt oder lediglich als motorische Ungeschicklichkeit abgetan. Dabei sind die psychischen und sozialen Auswirkungen für betroffene Kinder immens.
Woran erkenne ich kindliche Dyspraxie?
Dyspraxie ist eine angeborene Störung, die bereits von Geburt an besteht und oft genetisch bedingt ist. Sie entsteht aufgrund von Veränderungen in der Gehirnstruktur und -funktion, die die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnregionen beeinträchtigen, die für die Motorik und Koordination zuständig sind. Obwohl sie durch frühkindliche Gehirnschädigungen wie Sauerstoffmangel oder Frühgeburt beeinflusst werden kann, ist Dyspraxie in vielen Fällen von Anfang an vorhanden und wird oft familiär gehäuft vererbt.
Die Symptome von Dyspraxie sind vielfältig und betreffen nicht nur die Motorik, sondern auch das emotionale Wohlbefinden. Eltern und Fachkräfte sollten besonders aufmerksam sein, wenn Kinder:
Schwierigkeiten mit grobmotorischen Aufgaben wie Laufen, Springen oder Ballspielen haben,
feinmotorische Defizite zeigen, etwa beim Schreiben, Malen, Schneiden oder Anziehen,
sich ungeschickt bewegen, oft stolpern oder Probleme mit dem Gleichgewicht haben,
verzögert sprechen lernen oder undeutlich artikulieren,
Alltagsaufgaben nur mit großer Anstrengung bewältigen,
schnell frustriert sind und ein geringes Selbstbewusstsein entwickeln,
soziale Rückzugsstrategien entwickeln oder ängstlich auf Herausforderungen reagieren.
Da Dyspraxie oft mit ADHS oder Autismus verwechselt wird, bleibt sie häufig unerkannt. Eine frühzeitige Diagnose kann jedoch entscheidend sein, um gezielte Unterstützung zu bieten.

Diagnostische Leitlinie und ICD-Kriterien
Laut der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10: F82, ICD-11: 6A04) wird Dyspraxie als "umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen" klassifiziert. Die Diagnostik erfolgt in der Regel durch spezialisierte Kinderneurologen oder Entwicklungspsychologen und umfasst standardisierte Testverfahren. Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
Deutliche motorische Defizite, die nicht durch eine geistige Behinderung oder neurologische Erkrankung erklärbar sind.
Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung, z. B. Probleme beim Anziehen, Schreiben oder Sport.
Auffälligkeiten in der motorischen Koordination, die sich nicht durch mangelnde Übung oder Motivation begründen lassen.
Persistenz der Symptome über mindestens sechs Monate, um vorübergehende Entwicklungsverzögerungen auszuschließen.
Ausschluss anderer neurologischer oder sensorischer Ursachen, wie etwa Muskelerkrankungen oder Sehprobleme.
Eine umfassende Diagnostik beinhaltet motorische Tests, neurologische Untersuchungen und eine ausführliche Anamnese. Zusätzlich können bildgebende Verfahren oder genetische Analysen ergänzend eingesetzt werden, um andere Erkrankungen auszuschließen.
Dyspraxie ist weit mehr als bloße Tollpatschigkeit und sollte ernst genommen werden, erklärt Prof. Dr. Schulte-Markwort, ehemaliger Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und heutiger Supervisor und Mediator der Paidion Praxis.
Kinder mit Dyspraxie stehen vor der Herausforderung, dass sie trotz normaler oder sogar hoher Intelligenz in der Schule oft schlechtere Leistungen zeigen. Sie haben Schwierigkeiten, Klassenarbeiten rechtzeitig zu beenden, ihre Schrift ist schwer lesbar oder sie können im Sportunterricht nicht mithalten.
Dyspraxie gehört zu den sogenannten Teilleistungsstörungen – spezifischen Entwicklungsstörungen, die einzelne Fähigkeiten wie Koordination, Fein- und Grobmotorik sowie insbesondere die Auge-Hand-Koordination betreffen. Diese Symptome sind charakteristisch für die Diagnose Dyspraxie.
Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) wird die Diagnose häufig mithilfe des Hamburg-Wechsler Intelligenztests IV (HAWIK-IV) gestellt. Dabei zeigt sich bei betroffenen Kindern oft eine signifikant verringerte Verarbeitungsgeschwindigkeit, die maßgeblich durch die Beeinträchtigung der Auge-Hand-Koordination beeinflusst wird. (Quelle: Dyspraxie-online.de)

Der Leidensweg der betroffenen Kinder
Kinder mit Dyspraxie erleben oft Misserfolge im Alltag. Ihre motorischen Einschränkungen können dazu führen, dass sie im Kindergarten oder in der Schule ausgegrenzt oder als "ungeschickt" abgestempelt werden. Dies hat massive psychische Folgen:
Niedriges Selbstwertgefühl: Ständige Misserfolge und Vergleiche mit Gleichaltrigen können zu Selbstzweifeln führen.
Soziale Isolation: Aufgrund ihrer Koordinationsprobleme meiden betroffene Kinder häufig Gruppenaktivitäten oder werden ausgegrenzt.
Emotionale Belastung: Der Stress, den alltägliche Aufgaben verursachen, kann zu Ängsten und depressiven Verstimmungen führen.
Schulische Probleme: Schwierigkeiten beim Schreiben, Sport oder Gruppenaufgaben können den Schulalltag erheblich erschweren.
Das Dilemma der Talente
Kinder mit Dyspraxie stehen oft vor dem Dilemma, dass ihre besonderen Talente aufgrund ihrer motorischen Schwierigkeiten und mangelnder Förderung in Deutschland nicht ausreichend zur Geltung kommen. Während sie kreative Problemlösungen, ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen und eine ausgeprägte Sensibilität für Details entwickeln können, wird dies häufig nicht erkannt oder gefördert, weil der Fokus oft auf den motorischen Defiziten liegt. Ohne gezielte Unterstützung bleiben diese Fähigkeiten im Hintergrund, was den Kindern zusätzliche Chancen verwehrt, ihr Potenzial voll auszuschöpfen.
Mangelhafte Diagnostik und Versorgung in Deutschland
Die Versorgung und Diagnostik von Dyspraxie in Deutschland ist kurzum gesagt mangelhaft.
Es gibt mehrere Gründe dafür:
Fehlendes Bewusstsein: Viele Ärzte, Lehrer und Therapeuten kennen Dyspraxie nicht oder nehmen sie nicht ernst. Sie wird oft als "motorische Ungeschicklichkeit" abgetan, ohne die weitreichenden Auswirkungen auf die Psyche und die schulische Entwicklung zu berücksichtigen.
Unzureichende Diagnostik: In Deutschland gibt es keine einheitliche Leitlinie für die Diagnosestellung. Die Störung wird häufig übersehen oder erst sehr spät erkannt. Es fehlt an standardisierten Testverfahren und an spezialisierten Fachärzten, die gezielt nach Dyspraxie suchen.
Fehlende Therapieangebote: Selbst wenn eine Diagnose vorliegt, gibt es oft nicht genügend spezialisierte Ergotherapeuten, Physiotherapeuten oder Logopäden. Zudem werden notwendige Therapien nicht immer von den Krankenkassen übernommen.
Mangelhafte schulische Unterstützung: In anderen Ländern wie den Niederlanden gibt es gezielte Fördermaßnahmen, Nachteilsausgleiche und integrative Konzepte für dyspaktische Kinder. In Deutschland fehlen solche Konzepte fast völlig, sodass betroffene Kinder im Schulalltag gänzlich untergehen.
Schätzungen zufolge leiden etwa 5-6% aller Kinder unter Dyspraxie, was bedeutet, dass in Deutschland hunderttausende betroffene Kinder unzureichend betreut werden und täglich mit schulischen und sozialen Herausforderungen kämpfen.
Blick ins Ausland: Vorbild Niederlande
Während Deutschland noch große Defizite aufweist, sieht die Situation in anderen Ländern deutlich besser aus. Die Niederlande zum Beispiel haben Dyspraxie als ernstzunehmende neurologische Entwicklungsstörung anerkannt und bieten:
Spezialisierte Diagnostikzentren: Fachkräfte sind gezielt auf die Erkennung von Dyspraxie geschult.
Therapieprogramme mit multidisziplinärem Ansatz: Kinder erhalten frühzeitig Zugang zu Ergotherapie, Physiotherapie und psychologischer Betreuung.
Unterstützung im Schulsystem: Individuelle Förderpläne, Nachteilsausgleiche und spezielle Hilfsmittel erleichtern betroffenen Kindern den Schulalltag.
Aktuelle Forschung und notwendige Verbesserungen
Neueste Studien betonen die Dringlichkeit früher Interventionen. Ein integrativer Therapieansatz mit neuroplastischen Trainingsmethoden hat sich als effektiv erwiesen. Zudem gibt es mittlerweile wissenschaftliche Leitlinien zur Behandlung von Dyspraxie. Die "European Academy of Childhood Disability (EACD)" empfiehlt eine multidisziplinäre Herangehensweise mit individuell abgestimmten Therapieplänen. Diese Leitlinien unterstreichen die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnostik und kontinuierlichen Unterstützung durch spezialisierte Fachkräfte.
Folgende Maßnahmen wären in Deutschland notwendig:
Bessere Ausbildung für Ärzte und Therapeuten: Dyspraxie muss als ernstzunehmende Entwicklungsstörung in den medizinischen Lehrplänen verankert werden.
Frühdiagnostik: Kinderärzte und Ergotherapeuten sollten frühzeitig gezielt testen und Eltern informieren.
Mehr spezialisierte Therapieangebote: Ergotherapie, Physiotherapie und psychologische Begleitung sollten flächendeckend verfügbar sein.
Schulische Förderung: Ein individualisiertes Förderkonzept mit motorischen Anpassungen und Nachteilsausgleichen muss in Schulen etabliert werden.
Fazit
Kindliche Dyspraxie ist weit mehr als nur eine motorische Störung. Sie beeinflusst das emotionale und soziale Leben der Kinder erheblich und erfordert eine frühzeitige, gezielte Unterstützung. Während Länder wie die Niederlande umfassende Diagnostik- und Therapieansätze etabliert haben, bleibt Deutschland in der Versorgung weit zurück. Hunderttausende betroffene Kinder erhalten keine adäquate Unterstützung und kämpfen mit enormen Herausforderungen im Alltag. Es ist dringend notwendig, die medizinische und schulische Versorgung zu verbessern, um diesen Kindern die Möglichkeit zu geben, ihr Potenzial auszuschöpfen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
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