Trauerpfützen im Kinderkopf – Wenn einer fehlt und der Stuhl trotzdem da steht (Trauer verarbeiten)
- Eva Tam -Systemische Kinderpsychotherapie
- 18. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 5 Tagen

Manchmal ist plötzlich jemand nicht mehr da. Und doch steht der Stuhl am Esstisch noch genauso wie gestern. Die Kaffeetasse vielleicht noch unverändert im Küchenschrank, das Lieblingsparfum steht noch auf dem Tisch – nur der Mensch dazu fehlt.
Für Erwachsene beginnt dann eine lange, langsame Wanderung durch das Tal der Trauer – mit all ihren Phasen, Fragen, dem Innehalten, dem Erinnern.
Kinder hingegen trauern anders. Ihre Seele schüttet keine langgezogenen Flüsse aus Schmerz aus, sondern hüpft von einer kleinen Pfütze zur nächsten.
Kinder trauern in Pfützen – mal sind sie da, spiegeln alles, was war, sind tief, traurig und dunkel. Und im nächsten Moment: verdunstet. Die Sonne kommt raus. Oder ein Schmetterling. Oder der Wunsch nach einer Milchschnitte.
Es ist nicht, dass Kinder weniger trauern – sie trauern anders. Anders zeitlich, anders körperlich, anders sprachlich. Eben so, wie ihr Inneres die Welt gerade versteht.
Während Erwachsene oft dauerhaft durchdrungen sind von der Trauer, ihr Raum geben, sie zulassen (oder auch nicht), fällt ein Kind aus seinem Trauerschmerz manchmal nahtlos in den Spielmodus. Es kann weinen, weil der geliebte Opa gestorben ist – und zwei Minuten später mit aufrichtigem Spaß mit der Playmobilfigur das Klo der Ritterburg verstopfen. Und das ist kein Verdrängen. Kein „sich ablenken“, wie wir es oft kennen. Sondern ein Ausdruck der noch unfertigen, fließenden inneren Welt eines Kindes.
Kinder leben ihre Gefühle in Wellen. Mal hoch, mal tief. Sie schäumen auf, schlagen über, brechen ab – und ruhen dann wieder. Weil Kinder im Hier und Jetzt leben, reagieren sie unmittelbar. Ihre Trauer kommt plötzlich, ohne Vorwarnung, heftig – und geht genauso schnell wieder.

„Ist Opa jetzt ganz klein, damit er in die Urne passt?“ – ein Satz, der Erwachsene oft innehalten lässt. Vielleicht schmunzeln sie verlegen, vielleicht sind sie kurz sprachlos. Doch was für uns skurril oder gar makaber klingt, ist für ein Kind oft eine völlig schlüssige, logische Annahme. Kinder denken konkret. Wenn sie hören, dass jemand „in eine Urne kommt“, dann malen sie sich genau das aus – in Bildern, in Proportionen, in greifbarer Realität. Für sie ist das keine schräge Idee. Es ist reine Logik. Punkt.
Solche Fragen zeigen, dass das kindliche Denken sich nicht um Tabus oder gesellschaftliche Konventionen schert. Es tastet sich mit dem ab, was bekannt ist – wie groß eine Urne sein kann, wie Menschen hineinpassen könnten, wie der Himmel funktioniert oder ob man da WLAN hat. Hinter diesen Fragen steckt kein Spott, kein Humor, sondern der ernste Versuch, etwas Unfassbares mit der kindlichen Vorstellungskraft zu greifen.
Und genau darin liegt die große Herausforderung – und Chance – für Erwachsene: nicht zu korrigieren oder kleinzureden, sondern zuzuhören. Denn diese kindlichen Bilder, so wunderbar eigen sie sein mögen, sind oft der erste Schritt in ein Verstehen.
Deshalb ist kindliche Trauer ein Flickenteppich: bunt, widersprüchlich, und voller eigenwilliger Logik. Sie äußert sich nicht nur in Worten, sondern in Spielen, Zeichnungen, Körpersymptomen oder in plötzlicher Angst.
Und genau deshalb brauchen Kinder in Phasen des Verlustes keine durchgetakteten Trauermodelle – sondern Erwachsene, die aushalten, dass alles sein darf: Lachen, Fragen, Rückzug, Wut, Hunger, Spiel und plötzliche Stille. Und nichts davon ist „falsch“.
Wie Kinder in verschiedenen Altersstufen Trauer erfahren können
0 bis ca. 3 Jahre
In den ersten Lebensjahren haben Kinder noch kein Konzept von „Tod“ im Sinne von „für immer weg“. Sie spüren aber Verlust – sehr deutlich. Wenn eine Bindungsperson plötzlich fehlt, reagieren sie mit Irritation, Unruhe, Weinen, veränderten Schlaf- oder Essgewohnheiten. Trauer äußert sich hier vor allem körperlich. Kinder in diesem Alter brauchen viel Nähe, sichere Bezugspersonen, Beruhigung und klare, einfache Worte: „Oma ist gestorben. Sie kommt nicht mehr zurück. Aber du bist nicht allein.“
3 bis 5 Jahre
In diesem Alter entsteht langsam das Verständnis, dass Tod etwas mit „Wegsein“ zu tun hat – aber oft noch nicht, dass er unumkehrbar ist. Viele Kinder glauben, der Verstorbene könne wiederkommen – oder sei nur irgendwo „anders“. Der Tod wird oft personifiziert (z. B. als Figur oder Schlafzustand), und das magische Denken ist stark ausgeprägt: Kinder glauben, sie könnten durch Gedanken oder Verhalten etwas verursacht oder verhindert haben. Daher ist in dieser Phase auch Schuld ein Thema: „War ich böse? Hat Opa meinetwegen Bauchweh bekommen?“ – Kinder brauchen jetzt viel Bestärkung, dass sie nicht schuld sind, und dürfen sich aktiv verabschieden (z. B. durch Zeichnungen, Blumen, Beerdigungsrituale).
6 bis 9 Jahre
Jetzt entwickelt sich ein erstes realistisches Todesverständnis. Kinder begreifen, dass Tod endgültig ist und alle betrifft – auch sie selbst. Daraus entstehen oft existenzielle Fragen und Ängste: „Wirst du auch sterben? Was passiert, wenn ich alleine bin?“ Diese Ängste sind normal – aber einschneidend. Kinder brauchen konkrete Antworten, keine beschwichtigenden Halbsätze. Gleichzeitig schwankt die kindliche Reaktion stark: Zwischen tiefer Traurigkeit, Rückzug, Wut, großer Fürsorge – und dann plötzlich: Toben, Lachen, Spielen. Genau hier zeigen sich die „Trauerpfützen“ besonders intensiv.
10 bis 13 Jahre
Kinder in diesem Alter sind bereits erstaunlich reflektiert. Sie stellen philosophische Fragen, verarbeiten Verlust oft durch intensives Nachdenken, Schreiben oder Gespräche. Gleichzeitig versuchen sie, sich zusammenzureißen – weil sie sich oft „zu groß“ fühlen für offenes Weinen. Sie sind verletzlich und suchen trotzdem Halt. Gespräche über Rituale, über Erinnerungen, über das, was bleiben darf, sind jetzt hilfreich. Und das Angebot: „Du musst nicht stark sein.“
Ab 14 Jahren
Jugendliche trauern oft wie Erwachsene – mit dem Unterschied, dass ihre Welt ohnehin von Umbrüchen geprägt ist. Trauer kann sich mit Identitätssuche, emotionalem Chaos, Rückzug oder auch Aggression vermischen. Manche Jugendliche wirken kühl, zynisch oder sarkastisch – ein Selbstschutz. Sie wollen oft nicht darüber sprechen – aber sie möchten, dass jemand da ist. Unaufdringlich. Zuhörend. Offen. Auch hier gilt: Gefühle zulassen, Räume schaffen, aber nicht drängen. Und ernst nehmen, was sie bewegt – auch wenn es sich manchmal hinter Ironie versteckt.

Häufige Fehler
Ein häufiger Fehler in der Trauerbegleitung von Kindern ist der gut gemeinte, aber falsch verstandene Schutz durch Erwachsene: Kinder nicht mitnehmen zur Beerdigung, ihnen keine Fragen beantworten, sie außen vor lassen – aus Angst, sie könnten „zu sehr leiden“. Doch Kinder leiden nicht weniger, wenn man sie ausschließt.
Im Gegenteil: Was sie sich in ihrer Fantasie ausmalen, kann oft viel erschreckender sein als die Realität.
Es ist für Kinder jeden Alters wichtig, sich bei einem familiären Trauerfall oder auch beim Tod eines geliebten Haustiers voll und ganz einbringen zu dürfen – natürlich nur, wenn das Kind selbst das möchte. Eine bewusste Verabschiedung hilft, den Abschied zu begreifen. Eine Aufgabe zu haben – sei es ein Bild zu malen, eine Blume zu pflücken, einen Brief zu schreiben oder den Lieblingsstein ins Grab zu legen – kann heilender sein als jedes gut gemeinte Schweigen.
Und noch etwas: Sätze wie „Opa ist nur eingeschlafen“ mögen tröstlich gemeint sein, verwirren aber zutiefst. Denn wer sagt, dass das Kind danach noch ruhig schlafen kann? Kinder brauchen klare Worte. Der Tod bedeutet, dass der Körper nicht mehr funktioniert. Dass Herz, Lunge, Gehirn ihre Arbeit eingestellt haben. Punkt.
Was viele unterschätzen: Aus kindlicher Trauer kann eine tiefe Resilienz wachsen – wenn Kinder die Chance bekommen, Trauer wirklich zu erleben. Wenn sie fühlen dürfen, was sie fühlen. Wenn sie Fragen stellen dürfen – auch die unbequemen. Und wenn sie am Ende etwas tun dürfen. Denn tun hilft. Auch kleinen Menschenherzen.

Mit Schippe, Mülltüte und Bestattungsauftrag: Unser eigener Friedhof der Kuscheltiere
Ich weiß noch genau, wie das bei uns aussah – in meiner Kindheit in Erftstadt. Mein Bruder und ich waren das inoffizielle Bergungsteam des Viertels. Mit einer Schippe in der einen und einer Mülltüte in der anderen Hand zogen wir los, sobald wir ein totes Tier entdeckten: einen Hasen, eine Maus, einen Igel, manchmal auch einen kleinen Vogel. Was für andere einfach ein trauriger Fund am Straßenrand war, wurde für uns der Beginn einer feierlichen Mission. Freude kam auf – ich weiß, das klingt ein bisschen morbide! Wir nahmen die Tiere mit nach Hause, bauten Särge aus alten Schuhkartons, bemalten Kreuze, erfanden Namen wie „Fridoline Feldmaus“ oder „Hugo der Igel“. Die Nachbarskinder waren begeistert – jede Beerdigung wurde zum kleinen Gemeinschaftsfest. Es gab Reden, Blumen, Kerzen und eigentlich auch immer Kuchen. Ein Kind spielte Flöte, ein anderes hatte ein Gedicht vorbereitet. Wir standen im Kreis, hielten inne, verabschiedeten uns – und danach wurde dann auch ordentlich gefeiert - Kinder unter sich.

Unser Garten wurde mit der Zeit zu einem echten Tierfriedhof. So viele kleine Kreuze, so viele Geschichten. Irgendwann sagten meine Eltern: „Hier sieht es aus wie beim Friedhof der Kuscheltiere.“ Und das war dann auch der Moment, an dem sie genug hatten. Meine Mutter begann nach und nach, die Kreuze wieder abzubauen. Kein weiteres Tier durfte mehr nach Hause geschleppt werden. Kein neues Begräbnis.
Aber was blieb, war das Gefühl: Wir durften etwas tun. Etwas gestalten. Etwas nettes für das kleine fremde Tierchen tun.
Das eigene Haustier verdient aus Kindersicht sowieso eine liebevolle, würdevolle Bestattung. Es war nicht einfach nur ein Tier – es war Familienmitglied, Seelentröster, Spielkamerad. Es hatte einen Namen, war Teil des Alltags und hinterlässt jetzt eine Lücke, die man nicht einfach füllen kann.
Kinder sind feinsinnige, kreative, manchmal auch wunderbar schräge Wesen.
Sie trauern nicht weniger – sie trauern anders.
Sie brauchen Rituale, Raum, ehrliche Worte – und hin und wieder einen Schuhkarton sowie eine ordentliche Portion Fantasie.
Denn manchmal ist Liebe eben genau das: Einen toten Hasen mit allen Ehren zu beerdigen – oder das geliebte Meerschweinchen „Flocke“ – und ihm den schönsten Abschied zu bereiten, den man sich nur vorstellen kann. Und natürlich ein Stück Kuchen dazu, weil wer sagt, dass Trauer nicht auch ein wenig Spaß haben dürfte?
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Trauer verarbeiten
Ganz ganz toll geschrieben🫶🏻! Mit dem „Bergungsteam“ musste ich lachen - es erinnert mich auch an früher:-) Ich war Bestatter für Marienkäfer😉.